Was für eine Winterreise in den Solent spricht. Und warum man komplizierte Analogaufgaben auch mal spielerisch sehen muss. Augenzeugenbericht von einem RYA-Yachtmaster-Training
Der Solent ist halt quasi ideal. Also: um das Segeln mit den Gezeiten zu lernen. Im Winter, wenn man abends noch am Kaminfeuer beim Bier im Pub sitzen kann, ehrlicherweise noch etwas mehr als im Sommer. Und wer sich hier zurecht findet, kommt in allen anderen europäischen Revieren wohl auch klar.
Würde man sich also so einen ADAC-Verkehrsübungplatz für Segler ausdenken (ja, okay, nur Segelinstruktoren kommen überhaupt auf diese Idee) – würde er wohl genau so aussehen wie der Solent: Fast immer strömt die Tide irgendwohin, das aber kräftig. Beschauliche Naturhäfen in kleinen Nebenflüssen liegen nur ein paar nautische Meilen von großen Marinas mit komplizierten Einfahrten, in denen man erst den Hafenmeister des Königs um Erlaubnis bitten muss, eh man überhaupt das Gewässer queren darf. Militärschiffe in der Marina, Riesentanker und Containerfrachter, die Tag und Nacht um Untiefen bugsiert werden, Schnellfähren, die auch bei Nebel an einem vorbeisausen, dazu alle Zeichen, die die Seekarte erfunden hat. Nachts blinkt es von überall. Und doch gibt es auch abendliche Ziele, für deren Ansteuerung – wohl aus segelpädagogischen Gründen – freundlicherweise jede zweite Lateraltonne links und rechts des Flusses unbeleuchtet bleibt. Irgendwo droht immer das Wasser unter dem Kiel knapp zu werden, wenn man rein oder raus will – dann müsste man wie viele Stunden hier ausharren? Schnell mal in den Reeds gucken, über Spring- und Nipptiden nachdenken, Krokodile zeichnen, Kurven rechnen, sich im Salon zusammen über die analoge Karte beugen. Denn hier soll, nein: muss auch zurecht kommen, wer notfalls ohne seine allwissenden Plottertechnik auskommen muss, auf die sich viele Segler heutzutage nur allzu gern verlassen.
Fünf Segler sind gekommen, um sich auf einem Charterschiff in den heiligen Gewässern an der englischen Südküste dem RYA-Yachtmaster-Training der MCO Sailing Academy zu stellen. Männer irgendwo zwischen 30 und 60, manche haben jahrzehntelange Erfahrung als Skipper und planen die Anschaffung großer Yachten, andere, so wie ich, sind auf Dickschiffen noch eher neu und suchen die Herausforderung. Wo, wenn nicht hier?
Ein bisschen komplizierter als auf der Ostsee ist es ja schon. Andererseits: Etwas Mut zu quick & dirty darf auch sein. „S’is ja ka Wissenschoft“, sagt Bernhard Hofer dann, der ewig geduldige, stets freundliche Segelinstruktor. Denn am Ende geht es halt um die eine Frage: „Geht si des aus?“ Wenn nicht, greift er beherzt ein. Na, und ein bisschen ist es dann auch einfach ein schönes Spiel, und kein Kampf: Wie genau finden wir den blinden Punkt, den er da gerade mal schnell in die Seekarte gemalt hat? Wie exakt können wir in der Dunkelheit auch ohne die Hilfe von Navionics sagen, wo wir eigentlich gerade sind? Wohin hat uns der Strom vertrieben? Wie treibt man elegant seitlich an den Steg, oder von ihm weg, allein mit der Kraft der Tide?
Und um fundierte Antworten auf all diese Frage zu kriegen, muss man die Kälte des Dezembers dann halt akzeptieren. Oder jedenfalls tolerieren. Wenn man kurz nach Nikolaus in Cowes – ja, dem legendären Cowes, dem Ausgangspunkt des Admiral’s Cups, des Fastnet Race und natürlich der Cowes Week – wenn man also morgens hier auf den Steg tritt, dann kann es schon mal sein, dass der von einem romantischen Hauch in Weiß überzogen ist. Vögel haben dann ihre Spuren hier hinterlassen, die ersten Segler, auch. Auf der Winsch, der Sprayhood, am Steuerstand: überall sammeln sich Eiskristalle, als wir hier sind, und den warmen Hauch des eigenen Atems kann man gut sehen. Aber auch in der Adventszeit kann es hier wärmer sein, hört man. Warum wir nicht trotzdem, sagen wir: im Frühsommer kommen? Well, jetzt kann man halt jeden Abend eine Nachtansteuerung trainieren und trotzdem um sieben zusammen beim Essen sitzen. So einfach ist das.
Die Frage, ob es im Dezember nicht viel zu kalt ist, um im Solent segeln zu gehen, ist aber eine, die alle hier an Bord gerade immer wieder hören. Die Einheimischen denken da bisweilen offenbar eh anders: Da ist der kurzbehoste Herr am Steg im Cowes Yachthaven, da ist der Steuermann einer Fahrtenyacht vor Southampton, im kurzen Leiberl, da ist die Frau im Minirock, in den Straßen von Portsmouth. Aber auch sonst gibt es Gründe, gerade jetzt hierher zu kommen – der Vollmond etwa, der in faszinierend unwirklichem Orange über der Stadt aufgeht, am Beginn einer klaren Nacht. Am Nachmittag haben wir noch zum Kaffee bei deliziösen Häppchen in der Sonne an Deck unserer Beneteau Oceanis 37 gesessen. Währenddessen hängen zuhause die Segler an ihren mobilen Fernsprechapparaten und jammern ihre winterlichen Entzugserscheinungen in die sozialen Netzwerke, weil ihr Boot jetzt noch monatelang hoch und trocken steht. Ist das die Alternative?
Als Belohnung gibt es abends Luxusbadezimmer mit Hotelstandard in einem kleinen Weiler namens Buckler’s Hard am Beaulieu River, in dem früher Kriegsschiffe gebaut wurden und der später Francis Chichester als Start- und Zielpunkt seiner Einhand-Weltumseglung auf der Gipsy Moth IV diente. Oder einen Premium-Liegeplatz direkt am Fuße des 170 Meter hohen und nachts illuminierten Spinnaker Towers in Portsmouth. Der ist zwar eher so eine männliche „Meiner ist größer als Deiner“ – Architektur inmitten einer glitzernden Konsumwelt, aber beeindruckend ist er schon trotzdem. Hier liegen wir nur ein paar Meter neben der „Telefonica Black“, einem VO70, der 2008/09 das Volvo Ocean Race mitfuhr und am Ende sechster wurde. Drüben in Gosport, auf der anderen Hafenseite, lag früher die „Hugo Boss“, der Imoca von Alex Thomson. Wir trainieren hier das Anlegen unter Segeln an einer Boje, misstrauisch beäugt von den Patrouillenbooten des nach der Queen benannten Flugzeugträgers.
Am Ende attestiert uns der Trainer „eine steile Lernkurve“, im nächsten Jahr werden sich die ersten von uns der gestrengen Prüfung der RYA stellen. Bei mir ist noch eher diese Art von Glück, Stolz, oder Zufriedenheit, die zwar nachhaltiger ist, sich aber erst hinterher einstellt, wenn man es geschafft hat. Obwohl man währenddessen manchmal noch denkt: Warum mach ich das?
Doch, doch, auch wenn des nachts manchmal das Kondenswasser von der Decke tropft, in den warmen Schlafsack: Es spricht viel dafür, im Winter segeln zu gehen. Im Solent. Ich werde es wieder tun.